Freitag, 19. Juli 2019
Nordsonne
Nachdem sich die NORDSONNE für Wochen mit Wolken umgeben hatte, trat sie an einem Julitag wieder hervor und erweckte ihn bald nach Mitternacht durch ihr scharfes frisches Licht. Als ein Mann im oberen Stockwerk eines freundlichen Hauses in Murmansk sich mühsam von seinen Träumen verabschiedete, blickte er verdutzt in dieses Licht. Bald danach beschien ebendiese Sonne einen Rucksackträger, der über Schotterstraßen abwärts eile und gerade zugleich mit einem schwarzen Mercedes-Bus die Station erreichte und unter der geöffneten Heckklappe sein Gepäck verstaute. Durch das Dachfenster waren alle sieben Passagiere und der Fahrer gut sichtbar, von denen die meisten bald wieder schliefen. Nur der Fahrer, das kleine Mädchen und der Mann im T-Shirt beobachteten unentwegt die karge Landschaft, sobald die Straße von Murmansk weg nach Westen führte. Dort waren kleine Birken in der Überzahl, die selten eine Länge von mehr als sechs Metern erreichten, zuweilen waren Kiefern eingestreut. Es gab aber auch lange Striche gänzlich ohne Bäume, deren nackte graue Steinkuppen nur durch Heidekraut und weißgrünes Flechtwerk bedeckt und durch braunwassrige Moorseen unterbrochen waren. Diese flachwellige Erdgegend hielt der Sonne wenig entgegen und mochte noch nicht weit über das hinausgekommen sein, was seit Abermillionen Jahren auf dem Stein Fuß fassen konnte. Karg war das Land und dünn das Leben darin.
Dennoch zeugten vereinzelte Grabreihen und Gedenksteine, dass es großes Interesse an diesem leeren Landstrich gegeben hatte, und auch jetzt häuften sich Kasernen, Garagen und Abstellplätze für stahlbewehrte Fahrzeuge auf Rädern und Ketten entlang einer bestimmten Linie, und Soldaten marschierten weiterhin in Formationen über Wege. Vor einigen Jahren hatten sich die misstrauischen Nachbarn darauf geeinigt, gemeinsam nicht nur die Erdoberfläche, sondern mit großem Aufwand den Boden unter dem Meer zu untersuchen, und es entstand auf dem Meer eine überraschend große Geschäftigkeit, die über den bereits beträchtlichen Handelsverkehr des russischen Nordens mit Europa, der hier entlanglief, noch hinausging.
Nach unzähligen Halten und Kontrollen erreichte das schwarze Fahrzeug schließlich das erste Städtchen nach der Grenze, und mit einigen andern trat auch der T-Shirt-Träger heraus, streckte die Beine, ergriff den Rucksack und betrachtete die angrenzenden wenigen Straßen nun als sein Forschungsgebiet. Es gab einen Markt mit einigen wenigen Marktständen, an denen Fleisch und Wurst, Käse, türkischer Honig und Handarbeiten angeboten wurden, einige kleine Kaffeehäuser, ein Textil-, ein Werkzeuggeschäft, mehrere Verwaltungsgebäude, ein oder zwei bessere Restaurants, ein klotziges Hotel am Ufer des Fjords und ein Warenhaus mit zwei Eingängen, zwei Stockwerken und einer Rolltreppe. In der protestantischen Kirche in der Ortsmitte, die äußerlich einer Fabrik ähnelte, gab es bunte Glasfenster, farbige Wandteppiche mit Bibelszenen, eine Kanzel mit der Mutter Gottes sowie ein lebendes Kreuz mit mehreren plastischen Bibelfiguren, und gerade wurde die Orgel neu gestimmt, sodass schauerliche Schnarrgeräusche durch die Kirche schossen und die gar nicht wenigen Besucher erschreckten. Stürzten diese dann nach draußen, wurden sie von einer Schar riesiger Möwen unbarmherzig ausgelacht, sodass es weithin davon hallte

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Was ist ein Gespräch
Am ersten Tag in dieser fremden Stadt, deren Namen mich bereits im Geographieunterricht fasziniert hat, holte mich zur vereinbarten Stunde Ilija vom Hotel ab, ein vierschrötiger Mann um die Dreißig. Bereits am Weg zum Treffpunkt fragte er mich nach meinem Beruf aus, den er in der Beschreibung gelesen hatte, und wollte wissen, was Glauben sei. Er kannte den einen oder anderen, der gläubig sei, aber in seiner Familie niemand, und er als wissenschaftlich rational denkender Mensch könne sich das gar nicht vorstellen. Ich erwiderte, dass Atheismus dort noch anzutreffen sei, wo der Kommunismus geherrscht habe, aber keineswegs eine weltweite Erscheinung wäre. Während wir durch die Drehtür ins Kaufhaus traten und die Rolltreppen hochfuhren, kam er auf Hegel zu sprechen, der von Marx und Lenin oft zitiert würde, und ich bestätigte dessen Versuch, Religion philosophisch zu fassen, ohne dass ich ihn gutheißen würde. Schließlich traten wir, im Restaurant unterm Dach angelangt, an den entferntesten Tisch, wo schon zwei junge Männer warteten und uns freundlich begrüßten. Ilija fragte ohne Vorbereitung die beiden, ob sie an Gott glaubten, und beide verneinten freundlich mit dem Hinweis, rational erzogen zu sein. Auch alle später noch Dazukommende wurden von ihm mit der gleichen Frage empfangen, er bekam nicht immer eine Antwort.
Von beinahe jedem und jeder wurde ich gefragt, warum ich nach Archangelsk gekommen sei, und ich antwortete mit meiner etappenweisen Reise rund um Europa - das sahen sie ein. Wer weiterfragte, erfuhr, dass ich wegen Pawel Lungins Film Ostrov gekommen sei, sodass wir über russische Literatur und Filme zu sprechen kamen. Auch tasteten sie sich immer wieder an mein Priestersein heran, ob Priester erkenntlich sein müssten, ob der Glaube unserer Zeit entspräche und was ich über die russische Kirche dächte. Auf eine explizite Frage nach Aberglauben (von Ilija) sagte ich, dass Glaubenswachstum darin bestünde, besser und besser zu erkennen, was Gott sei - und was nicht, sodass ein Gottesgläubiger eigentlich ein besonders kritischer Mensch sein müsse.
Glaubensfragen waren der eine Teil unserer Gespräche, und am besten gefiel ihnen mein Vergleich des Gottesglaubens mit dem Vertrauen in einen Menschen, das ebenfalls immer ein Vorgriff sei, ein Entgegenkommen ohne Garantie auf eine adäquate Antwort. Der andere Teil der Fragen ging um Russland und die Russen, nach dem Klang der russischen Sprache und den Vorurteilen über die Russen, sowohl meine Erfahrungen wie Denken und Vorstellungen der Europäer.
Jedesmal wurde es still am Tisch, wenn eine Frage gestellt wurde, und mit großem Ernst besprach man sich dann. Ich war begeistert über ihre Neugier und erzählte ihnen über die üblichsten Gesprächsformen in meiner Heimat: das Überbietungsgespräch, bei dem man immer noch tollere Erzählungen hatte als der Gesprächspartner, oder das Assoziationsgespräch, bei dem immer wieder jemand etwas einfällt, für das man aus der Erzählung des anderen ein Stichwort nimmt. Das alles wäre mehr Selbstoffenbarung als Zuhören und Interesse, sodass jeder bei sich bleibe und den anderen bloß zur Selbstbestätigung benötigte. Sie waren erstaunt und entgegneten, dass Archangelsk ja eine Universität hätte und sie alle gebildet seien.
Neben mir saß ein stiller, freundlicher Schilehrer, dann eine junge Medizinerin, die gerade die letzte Prüfung gemacht hatte und nun eine Anstellung suchte. Dann Anna, die Journalistin, mehrere Techniker, darunter ein asiatisch Aussehender, der fröhlich erzählte, dass er bei früheren Treffen von Couchsurfern für den Gast gehalten wurde und man ihm stets chinesische Google-Übersetzungen hingehalten habe. André konnte ich nach Tromsö befragen, denn er hatte dort studiert. Und Lisa, die erst spät erschienen war, stellte sich als St. Petersburgerin vor, die am Vorabend ihren Studienabschluss in Psychologie gefeiert hatte und nun selbst gerade erst angekommen und sogleich mit ihrem Gastgeber zu der Versammlung geeilt war. Mit ihr sprach ich lange über Freiheit, über Reisen als Ausdruck von Freiheit, und über das Verwirklichen alter Träume wie jenes, einmal zu sehen, was sich hinter dem von der Schulzeit bekannten Namen Archangelsk verbirgt.
Mich hat immer die Ahnung begleitet, dass Fragen und Antworten die Urform des Gesprächs sei, und in der Stadt des Erzengels wurde sie wieder bestätigt






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Oberflächen II
Warum nochmals über Oberflächen sprechen?
Eine Rechtfertigung könnte sein, dass Russen und besonders Russinnen häufig mit dem Blick zum Boden gehen, wohl aus der Zeit, als man sich nicht verdächtig machen wollte oder von Männern unbehelligt bleiben will. Eine weitere kann sein, dass im Norden über Morast und Schneefelder Holzstege gebaut werden, über die man besser vorsichtig geht. Der wichtigste Grund ist aber Andrei Tarkovsky. Er ist nicht nur der Meister der Oberfläche, sondern auch Meister der Tiefe. Alle Elemente seiner Bodenmeditationen in "Stalker" habe ich heute wiedergefunden. Dazu muss man sich nur auf den Weg machen durch ein ungewisses, beeinträchtigtes Naturgebiet mit einer gewissen Ahnung und einer gewissen Bedrohung. Denis und Elena haben mir einen kopierten Zettel gezeigt, auf dem ein paar Linien gezeichnet waren, sowie ein Foto am Handy, und dazugesagt, das Haus wäre in den Dreißigerjahren Quartier für die Gefangenen des Gulag gewesen, danach eine Kadettenschule. Es wäre verfallen und unbeachtet.
Der mutmaßliche Weg war nach Regentagen schlammig, es gab verwachsene Schrottplätze, und am Ende musste eine leere Arbeitersiedlung durchquert werden, aus der zuweilen Geräusche drangen.

Die Tiefe der Oberfläche wird nicht erst erfahren, wenn man im Schlamm versinkt. Denken Sie an die Wasseroberfläche! An Flut und Ebbe, an das, was die Wellen anspülen und zurücklassen! Und das, worauf die Tundra der Insel steht, ist ja ebenfalls angespült und angeweht worden. In Wirklichkeit ist die Tiefe des Grundes das, was möglich macht, dass wirklich wird. Weiter unten ist es bloß möglich, weiter oben wird es wirklich. Die Gewächse des Bodens verwirklichen sich zuletzt in den Früchten - bis diese wieder zur Erde fallen. Und der Morast, auf dem der Mensch wandelt, lässt eine Geschichte werden mit genießbaren wie auch faulen Früchten

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