Freitag, 19. Juli 2019
Was ist ein Gespräch
fremd worte, 15:36h
Am ersten Tag in dieser fremden Stadt, deren Namen mich bereits im Geographieunterricht fasziniert hat, holte mich zur vereinbarten Stunde Ilija vom Hotel ab, ein vierschrötiger Mann um die Dreißig. Bereits am Weg zum Treffpunkt fragte er mich nach meinem Beruf aus, den er in der Beschreibung gelesen hatte, und wollte wissen, was Glauben sei. Er kannte den einen oder anderen, der gläubig sei, aber in seiner Familie niemand, und er als wissenschaftlich rational denkender Mensch könne sich das gar nicht vorstellen. Ich erwiderte, dass Atheismus dort noch anzutreffen sei, wo der Kommunismus geherrscht habe, aber keineswegs eine weltweite Erscheinung wäre. Während wir durch die Drehtür ins Kaufhaus traten und die Rolltreppen hochfuhren, kam er auf Hegel zu sprechen, der von Marx und Lenin oft zitiert würde, und ich bestätigte dessen Versuch, Religion philosophisch zu fassen, ohne dass ich ihn gutheißen würde. Schließlich traten wir, im Restaurant unterm Dach angelangt, an den entferntesten Tisch, wo schon zwei junge Männer warteten und uns freundlich begrüßten. Ilija fragte ohne Vorbereitung die beiden, ob sie an Gott glaubten, und beide verneinten freundlich mit dem Hinweis, rational erzogen zu sein. Auch alle später noch Dazukommende wurden von ihm mit der gleichen Frage empfangen, er bekam nicht immer eine Antwort.
Von beinahe jedem und jeder wurde ich gefragt, warum ich nach Archangelsk gekommen sei, und ich antwortete mit meiner etappenweisen Reise rund um Europa - das sahen sie ein. Wer weiterfragte, erfuhr, dass ich wegen Pawel Lungins Film Ostrov gekommen sei, sodass wir über russische Literatur und Filme zu sprechen kamen. Auch tasteten sie sich immer wieder an mein Priestersein heran, ob Priester erkenntlich sein müssten, ob der Glaube unserer Zeit entspräche und was ich über die russische Kirche dächte. Auf eine explizite Frage nach Aberglauben (von Ilija) sagte ich, dass Glaubenswachstum darin bestünde, besser und besser zu erkennen, was Gott sei - und was nicht, sodass ein Gottesgläubiger eigentlich ein besonders kritischer Mensch sein müsse.
Glaubensfragen waren der eine Teil unserer Gespräche, und am besten gefiel ihnen mein Vergleich des Gottesglaubens mit dem Vertrauen in einen Menschen, das ebenfalls immer ein Vorgriff sei, ein Entgegenkommen ohne Garantie auf eine adäquate Antwort. Der andere Teil der Fragen ging um Russland und die Russen, nach dem Klang der russischen Sprache und den Vorurteilen über die Russen, sowohl meine Erfahrungen wie Denken und Vorstellungen der Europäer.
Jedesmal wurde es still am Tisch, wenn eine Frage gestellt wurde, und mit großem Ernst besprach man sich dann. Ich war begeistert über ihre Neugier und erzählte ihnen über die üblichsten Gesprächsformen in meiner Heimat: das Überbietungsgespräch, bei dem man immer noch tollere Erzählungen hatte als der Gesprächspartner, oder das Assoziationsgespräch, bei dem immer wieder jemand etwas einfällt, für das man aus der Erzählung des anderen ein Stichwort nimmt. Das alles wäre mehr Selbstoffenbarung als Zuhören und Interesse, sodass jeder bei sich bleibe und den anderen bloß zur Selbstbestätigung benötigte. Sie waren erstaunt und entgegneten, dass Archangelsk ja eine Universität hätte und sie alle gebildet seien.
Neben mir saß ein stiller, freundlicher Schilehrer, dann eine junge Medizinerin, die gerade die letzte Prüfung gemacht hatte und nun eine Anstellung suchte. Dann Anna, die Journalistin, mehrere Techniker, darunter ein asiatisch Aussehender, der fröhlich erzählte, dass er bei früheren Treffen von Couchsurfern für den Gast gehalten wurde und man ihm stets chinesische Google-Übersetzungen hingehalten habe. André konnte ich nach Tromsö befragen, denn er hatte dort studiert. Und Lisa, die erst spät erschienen war, stellte sich als St. Petersburgerin vor, die am Vorabend ihren Studienabschluss in Psychologie gefeiert hatte und nun selbst gerade erst angekommen und sogleich mit ihrem Gastgeber zu der Versammlung geeilt war. Mit ihr sprach ich lange über Freiheit, über Reisen als Ausdruck von Freiheit, und über das Verwirklichen alter Träume wie jenes, einmal zu sehen, was sich hinter dem von der Schulzeit bekannten Namen Archangelsk verbirgt.
Mich hat immer die Ahnung begleitet, dass Fragen und Antworten die Urform des Gesprächs sei, und in der Stadt des Erzengels wurde sie wieder bestätigt
Von beinahe jedem und jeder wurde ich gefragt, warum ich nach Archangelsk gekommen sei, und ich antwortete mit meiner etappenweisen Reise rund um Europa - das sahen sie ein. Wer weiterfragte, erfuhr, dass ich wegen Pawel Lungins Film Ostrov gekommen sei, sodass wir über russische Literatur und Filme zu sprechen kamen. Auch tasteten sie sich immer wieder an mein Priestersein heran, ob Priester erkenntlich sein müssten, ob der Glaube unserer Zeit entspräche und was ich über die russische Kirche dächte. Auf eine explizite Frage nach Aberglauben (von Ilija) sagte ich, dass Glaubenswachstum darin bestünde, besser und besser zu erkennen, was Gott sei - und was nicht, sodass ein Gottesgläubiger eigentlich ein besonders kritischer Mensch sein müsse.
Glaubensfragen waren der eine Teil unserer Gespräche, und am besten gefiel ihnen mein Vergleich des Gottesglaubens mit dem Vertrauen in einen Menschen, das ebenfalls immer ein Vorgriff sei, ein Entgegenkommen ohne Garantie auf eine adäquate Antwort. Der andere Teil der Fragen ging um Russland und die Russen, nach dem Klang der russischen Sprache und den Vorurteilen über die Russen, sowohl meine Erfahrungen wie Denken und Vorstellungen der Europäer.
Jedesmal wurde es still am Tisch, wenn eine Frage gestellt wurde, und mit großem Ernst besprach man sich dann. Ich war begeistert über ihre Neugier und erzählte ihnen über die üblichsten Gesprächsformen in meiner Heimat: das Überbietungsgespräch, bei dem man immer noch tollere Erzählungen hatte als der Gesprächspartner, oder das Assoziationsgespräch, bei dem immer wieder jemand etwas einfällt, für das man aus der Erzählung des anderen ein Stichwort nimmt. Das alles wäre mehr Selbstoffenbarung als Zuhören und Interesse, sodass jeder bei sich bleibe und den anderen bloß zur Selbstbestätigung benötigte. Sie waren erstaunt und entgegneten, dass Archangelsk ja eine Universität hätte und sie alle gebildet seien.
Neben mir saß ein stiller, freundlicher Schilehrer, dann eine junge Medizinerin, die gerade die letzte Prüfung gemacht hatte und nun eine Anstellung suchte. Dann Anna, die Journalistin, mehrere Techniker, darunter ein asiatisch Aussehender, der fröhlich erzählte, dass er bei früheren Treffen von Couchsurfern für den Gast gehalten wurde und man ihm stets chinesische Google-Übersetzungen hingehalten habe. André konnte ich nach Tromsö befragen, denn er hatte dort studiert. Und Lisa, die erst spät erschienen war, stellte sich als St. Petersburgerin vor, die am Vorabend ihren Studienabschluss in Psychologie gefeiert hatte und nun selbst gerade erst angekommen und sogleich mit ihrem Gastgeber zu der Versammlung geeilt war. Mit ihr sprach ich lange über Freiheit, über Reisen als Ausdruck von Freiheit, und über das Verwirklichen alter Träume wie jenes, einmal zu sehen, was sich hinter dem von der Schulzeit bekannten Namen Archangelsk verbirgt.
Mich hat immer die Ahnung begleitet, dass Fragen und Antworten die Urform des Gesprächs sei, und in der Stadt des Erzengels wurde sie wieder bestätigt
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