Freitag, 19. Juli 2019
Oberflächen II
Warum nochmals über Oberflächen sprechen?
Eine Rechtfertigung könnte sein, dass Russen und besonders Russinnen häufig mit dem Blick zum Boden gehen, wohl aus der Zeit, als man sich nicht verdächtig machen wollte oder von Männern unbehelligt bleiben will. Eine weitere kann sein, dass im Norden über Morast und Schneefelder Holzstege gebaut werden, über die man besser vorsichtig geht. Der wichtigste Grund ist aber Andrei Tarkovsky. Er ist nicht nur der Meister der Oberfläche, sondern auch Meister der Tiefe. Alle Elemente seiner Bodenmeditationen in "Stalker" habe ich heute wiedergefunden. Dazu muss man sich nur auf den Weg machen durch ein ungewisses, beeinträchtigtes Naturgebiet mit einer gewissen Ahnung und einer gewissen Bedrohung. Denis und Elena haben mir einen kopierten Zettel gezeigt, auf dem ein paar Linien gezeichnet waren, sowie ein Foto am Handy, und dazugesagt, das Haus wäre in den Dreißigerjahren Quartier für die Gefangenen des Gulag gewesen, danach eine Kadettenschule. Es wäre verfallen und unbeachtet.
Der mutmaßliche Weg war nach Regentagen schlammig, es gab verwachsene Schrottplätze, und am Ende musste eine leere Arbeitersiedlung durchquert werden, aus der zuweilen Geräusche drangen.

Die Tiefe der Oberfläche wird nicht erst erfahren, wenn man im Schlamm versinkt. Denken Sie an die Wasseroberfläche! An Flut und Ebbe, an das, was die Wellen anspülen und zurücklassen! Und das, worauf die Tundra der Insel steht, ist ja ebenfalls angespült und angeweht worden. In Wirklichkeit ist die Tiefe des Grundes das, was möglich macht, dass wirklich wird. Weiter unten ist es bloß möglich, weiter oben wird es wirklich. Die Gewächse des Bodens verwirklichen sich zuletzt in den Früchten - bis diese wieder zur Erde fallen. Und der Morast, auf dem der Mensch wandelt, lässt eine Geschichte werden mit genießbaren wie auch faulen Früchten

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Ist nicht die Tiefe dasjenige, das die Oberfläche trägt? Oberflächen sind Schein, Oberflächlichkeit die Krankheit unserer Zeit.
Und doch sehnen sich die Menschen nach der Tiefe. Sie suchen sie - in der Natur, in Büchern, in Beziehungen, im Sport, im Konsum - selten im Glauben.
Sie kaschieren mit vielen Worten im Gespräch. Im Antworten gibt man sich preis - zeigt, wer man ist / bezieht Stellung / die eigenen (Un-)Tiefen werden sichtbar / wird verletzbar. Wundert es da, wenn Mensch dann doch lieber an der Oberfläche bleibt - im Betrachten, im Nachdenken und im Gespräch?

Die Tiefe ist das Wunderbare, nicht die Oberfläche - so wie das gemeinsame Schweigen im Gespräch. Wer nimmt sich die Zeit, mehr als einmal hinzusehen / zuzuhören?

Eine gute Weiterreise!

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