Freitag, 9. August 2019
Zum Hören und Sehen
Hier noch eine Erinnerung an Russland:
Das Solovski-Kloster mit Glockengeläut und Mönchsgesang.
Gleichzeitig kann die Stimmung des russischen Nordens bei Regen erlebt werden, das nordische Licht und die Pilger in diesem Wallfahrtszentrum.

https://youtu.be/MKiQ-eY1wa0

https://youtu.be/P6mFu0ekiGs

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Donnerstag, 25. Juli 2019
Lesen in Russland
Auszugehen ist mindestens von Michail Alexandrowitsch Bulgakow, dem Kiewer Schöpfer der skurrilen Szenen des satanischen Schaustellers und seines aufrecht gehenden Katers, der das Theater und schließlich auch Moskau und ganz Russland in einen Hexenkessel verwandelt. Erst 26 Jahre nach seinem Tod erschien sein Jahrhundertroman "Meister und Margarita" 1966, und zwei Jahre später besang ihn Mick Jagger in "Sympathy for the Devil". Die mythologischen Gestalten landen im geschäftigen Moskau der 1930er Jahre, um sich an der gelehrten und literarischen Widerlegung der Existenz Christi durch die Kommunisten zu beteiligen. Den aufgeklärten Gebildeten, die den Gottesglauben für überholt halten, führt er aberwitzige Wunder vor und lässt Margarita auf dem Hexenbesen durch Moskau fliegen. Seine kleine Hilfsarmee aus Fabelgestalten arbeitet sich durch das zeitgenössische Stadtleben, um die Gesellschaft zu spalten und Satan darin einzunisten. Die Nachbarschaft von Surrealem und Realität findet in der detaillierten Romansprache statt, die beidem dieselbe Genauigkeit zukommen lässt und aus ihrem Aufeinandertreffen die Handlungsspannung gewinnt. Der Hieb Bulgakows geht gegen den korrupten Sowjet-Kommunismus und seinen Aufgeklärtheitsanspruch.
Salman Rushdie bezieht sich mit seinen "Satanischen Versen" (1988) ausdrücklich auf Bulgakow und fasst seine surrealen Figuren und Zeitreisen wie jener in einen realistischen Erzählton. Außer seinen Seitenhieben auf Khomeini in Paris lassen sich aber kaum gesellschaftskritische Anliegen erkennen, abgesehen von der Parallelgeschichte aus dem Leben Mohammeds, die den Revolutionsführer so erzürnt hat.

Ganz anders die Romane der Strugatzki-Brüder, wo in immer neuen phantastischen und utopischen Plots Eitelkeit und Wissenschaftsgläubigkeit der Gesellschaft vorgeführt werden. Seien es die Heldengeschichte des Weltraumfahrers Maxim Kammerer (Die bewohnte Insel), der unterentwickelte Zivilisationen an humane Standards heranführen sowie die menschliche Zivilisation vor der Einwirkung der Wanderer schützen soll - höher entwickelte Spezies, die noch nie angetroffen oder nachgewiesen werden konnten -, oder seien es Pfeffer oder Kandid, (Die Schnecke am Hang), denen es nicht gelingen will, von der Forschungsstation aus in den undurchdringlichen und scheinbar mit einer besonderen Intelligenz ausgestatteten Wald aufzubrechen: immer steht der Mensch vor unbekannten Welten, die sich seinem Zugriff entziehen. Es sind immer neue Konzepte einer unverständlichen Welt, die in einem Jenseits verbleibt und nur episodisch an unseren Grenzen anklopft. Die Konfrontationen sind unabsehbar und verweisen auf die unzugängliche Logik. Falls der Mensch ihnen beikommt oder zumindest standhalten kann, dann nicht mit wissenschaftlicher Rationalität, sondern mit Intuition und Heldenmut.
Roderic Schuchart, der Stalker, wird in "Picknick am Wegesrand" gezeichnet wie ein Westernheld, raubeinig, gewalttätig und trinkfest. Illegal dringt er immer wieder in die Zone ein, um ihr Wunderdinge zu entreißen, die er dann am Schwarzmarkt verkauft. Die Zone, das ist der Ankunftsraum der Außerirdischen, die einstmalige Begegnungsstätte, an der die fremde Präsenz noch immer wirkt. Ihre Durchquerung ist lebensgefährlich, ebenso aber auch der Absatz der Diebsbeute: der Stalker steht von beiden Seiten unter Druck. Der Gesellschaft und ihrer Wissenschaft gelingt es nicht, der Zone Herr zu werden - doch der Stalker schafft es mit Witz und Gespür, sich an ihre Rationalität anzupassen. Deutlich wird der satirische Unterton bereits in der Vorrede, wenn der Nobelpreisträger Dr. Pillman den Zusammenhang der einzelnen Zonen auf der Erdoberfläche mit dem Pillman-Radianten erklärt, als habe ein Fremder mit dem Revolver sechsmal auf die rotierende Erde gefeuert. Wenn aber Schuchart vor dem Allerheiligsten steht, bei seinem letzten, alles entscheidenden Vordringen in den gefährlichsten Bereich der Zone, dann stammelt er "einem Gebet gleich" Worte wie: "Wenn du aber tatsächlich so ... so allmächtig, so allwissend bist, dann versuch, mich zu begreifen! Wird einen Blick in meine Seele /.../ Meine Seele habe ich nie und niemandem verkauft!" Wenn Andrej Tarkowski nach "Picknick am Wegesrand" den Film "Stalker" dreht, dann lässt er all die mirakulösen Verkörperungen weg und stellt allein diese Wunscherfüllung in den Mittelpunkt der Durchquerung der Zone. Er lässt die drei Protagonisten darüber streiten, was der Mensch sich wünschen soll, wenn er weiß, dass der Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht. In "Picknick" mündet Schucharts Ratlosigkeit wegen der richtigen Wünsche in ein stammelndes Gebet, das demjenigen Jesu am Ölberg ähnelt: Herr, dein Wille geschehe! Das kann beinahe an eine Mystik der Sprachlosigkeit erinnern angesichts der Übermacht und Weisheit Gottes - obwohl man auch hier den satirischen Unterton nicht überhören darf und genauso an die Möglichkeit denken muss, dass die mystische Ehrfurcht vor der Gottheit etwas anderes ist als vor einer Metallkugel am Schutthang eines Steinbruchs, und sei sie auch von einer fremden Intelligenz hinterlassen worden.

Vladimir Sorokin, der mich diesmal auf einer Russlandreise begleitet hat, gilt mir in vielem als Nachfolger der Strugatzki-Brüder. Die realistische und detailgenaue Beschreibung des Phantastischen, das ins Normale einbricht, der satirische Unterton, die Fabelwesen rund um den Menschen, die Fabulierfreude, die Zeitverschiebungen bzw. die Versammlung verschiedener Epochen und Sprachformen, und besonders das gesellschaftskritische Anliegen. Die Form der Utopie in "Telluria" setzt umfangreiche Kriegshandlungen in Eurasien voraus und zeigt neu entstandene und zurückgebildete Staaten in Europa, Russland und Fernost. An wenigen Stellen wird sogar direkt auf bestimmte russische Politiker verwiesen, wenn auch ironisch und im Rückblick. Das könnte als politische Warnung verstanden werden, namentlich vor dem politischen Islam. Der rote Faden dieser Sammlung von einzelnen Episoden ist ein Betäubungsmittel, das den Menschen in einen gehobenen Bewusstseinsstand versetzt, indem ihm ein Nagel aus Tellur ins Gehirn eingeschlagen wird. Durch diese Manipulation scheint sich die geistige Weiterentwicklung des Menschen erübrigt zu haben, er fällt auf frühere Stufen der Zivilisation und Humanisierung zurück, Ritter und menschenähnliche Tiere, Zwerge und Riesen treten auf und beteiligen sich am Handel mit Tellur oder an Kriegswirren. Technische Entwicklungen haben untergeordnete Bedeutung und tragen harmlose Namen: Grips für ein handyartiges Wunderding, das sich verwandeln und Hologramme erzeugen kann, ein Rucksack mit Hartstofftriebwerken, damit man durch die Luft fliegen kann. Siebenmeilenstiefel. Aber Herrschaft und Kriegsführung haben sich nicht geändert. Der Zynismus ist derselbe, neue beherrschte Rassen sind hinzugekommen.
Die Bewusstseinserweiterung durch den Tellurnagel wird verwendet, um mit Verstorbenen in Kontakt zu treten, für sexuelle Eskapaden, zur eigenen Vervollkommnung oder, in einem der letzten Kapitel, um als Jünger mit Jesus durch Galiläa zu ziehen und die Bergpredigt aus seinem Mund zu hören. Dafür nimmt ein Familienvater eine jahrelange Reise auf sich und riskiert mehrmals sein Leben, während er für seine Familie verschollen ist. Feudale Gesellschaften mit verschiedenen humanoiden Wesen, mittelalterliches Christentum mit Kreuzritterorden und überall Bezug zu Krieg und Tod, das ist die Welt, die Sorokin in Tellur zeichnet. Und warum entstehen solche Texte im autoritär geführten Russland?
Die Beiläufigkeit des Zynismus

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Samstag, 13. Juli 2019
Die heftige Art zu reisen
Einmal vorsichtig nachgefragt am Flughafen, ob übermorgen noch ein Platz frei ist im Flug nach Solovetzki-Insel. Aber es gibt gar keinen Flug. Die Piste wird umgebaut. Hubschrauber? Schon voll. Also dann Bahn und Schiff. Aber das geht über Nacht. Ich bekomme den weiten Weg auf der Karte gezeigt. Das Schiff fährt nicht täglich. Heute geht ein Zug. Am Nachmittag. - So waren es also nur eineinhalb Tage in dieser Stadt.
Archangelsk, die Stadt des Erzengels.
Die Stadt der geraden Straßen.
Der Ordnung.
Wo keiner bei Rot geht.
Wo am Schutzweg angehalten wird.
Wo die Erzengelkirche wegen Renovierung geschlossen ist.
Das, was ich zuerst von dieser Stadt gesehen habe.
Am ersten Tag, gleich nach der Ankunft.
Am Weg, um noch ein Lokal zu finden, das offen hat, fast um Mitternacht.
Das Bierlokal war offen, die Kirche zu.

Ich teile das Abteil mit zwei Männern.
Ich habe das obere Bett.
Freundlicher Kontakt ohne Worte.
In der Nacht steigen sie aus, ein anderer kommt.
Pensionierter Tölpel.
Tratscht mit dem Tölpel vom Nebenabteil, als wären sie im Beisl.
Tiefe rauchige Stimme, ein wenig unterdrückt.
Um zwei werf ich sie hinaus, hier Schlafwagen, aha, Schlafwagen?
Sie gehen rauchen und kommen stinkend wieder.
Eine Rumflasche.
Kichern.
Ich habe doch geschlafen.
Tief nicht, denn ich muss ja in der Früh raus.
Die Schaffnerin kommt artig schon um 5 und bringt mir das Wechselgeld von gestern.
Als die Tür aufgeht, bin ich der erste, der über den Bahnsteig steigt, und bekomme das erste Taxi in Kem.
Strömender Regen.
Um Riesenpfützen herum mit 50 etwa eine Stunde.
Dann Warteschlange vor der Bootskasse eine halbe Stunde.
(Heißer Raum)
Das Pärchen getroffen vom Museum in Archangelsk.
Den älteren Herrn getroffen mit dem Riesenkoffer im Zug.
Das Pärchen aus Samara, wo ich vor fünf Jahren war.
Der Mann aus Longyearbyn, wir gehen Frühstücken.
Das Pärchen macht mich aufmerksam auf die Holzkirche aus Ostrov, die wir aus dem Fenster sehen. Als es kurz zu regnen aufhört, will ich hin. Sie gehen mit.



Die Holzkirche war gar keine Kirche, nur für den Film.
Sie ist am anderen Ende der Bucht.
Hohes nasses Gras, rutschige Granitfelsen.
Unzählige Holzhäuser.



Pawel Lungin hat den Ganzen Film über die Insel hier an der Küste gedreht.
Hier hat er gewohnt.
Hier die Mannschaft.







Mit gehobenem Gefühl kommen wir zurück.
Nassen Hosen, nassen Schuhen.
Böiger Wind, Regengüsse.
Die nassen Schuhe in den Heizraum, die trockenen an die Füße.
Der Philosophenkollege mit dem schweigsamen Sohn.
Russische Philosophie, katholische, protestantische.
Darüber ging der Vormittag hin, bis das Schiff da war.
Die Kapitänin hält eine ausgiebige russische Rede, während wir im Regen lauschen.
Dann werden wir an Deck gelassen und verschwinden im niederen Schiffbauch.
Für jeden ein Plätzchen.

Am Ende der ersten Stunde gab es einige überraschende Heber.
Manche sahen sich an und schluckten hinunter.
Es wurden mehr.



Einige gingen an Deck.
Einige zogen die Mütze in die Stirn und schliefen.
Der Pope legte sich über drei Sitze auf den Rücken.
Wahrscheinlich hat er sich auf den Atem konzentriert.
Ich konzentriere mich auf den heiligen Nikolaus, dessen Bild in der Mitte von der Decke hängt.
Von Entspannung keine Rede.
Höchste Konzentration und Anspannung.
Mein Blick fest und gerade.
Gerade bei den unerwarteten Hebungen.
Schließlich gehe auch ich nach hinten.
Im Stehen lässt sich das Schlingern besser abfangen und verstehen.
Es werden schließlich zwei Stunden, bis wir in die Bucht von Solovski einfahren.









Dann ein langer weicher Weg ins Dorf hinauf.
Nichts angeschrieben, das Touristbüro war dort, wo ich zuerst gefragt habe.
Dann gab es noch einige Kilometer, Missverständnisse, ein Mittagessen um drei, und schließlich ein Zimmer in einem Blockhaus.
Die anderen Bekannten habe ich alle wieder getroffen.
Am Abend ist es ganz klar geworden.
So plastisch und farbig und überwirklich.
Eine vom Schmutz gereinigte Welt.
Und bald ist wieder Mitternacht, und immer noch ist hell.

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